„Im Islam leben und sterben wir alle“?

Was Goethe unter „Islam“ versteht und was nicht

Goethe – ein zu Ende gedeuteter Klassiker? Da mag es viele überraschen, dass es, von den Spitzen der Goethe-Forschung abgesehen ­ in der Breite einen nahezu noch unbekannten Goethe gibt. Tatsache ist: Unter allen Dichtern deutscher Sprache hatte Goethe das leidenschaftlichste und zugleich kenntnisreichste Interesse für die Welt des Orients und zwar nicht nur für deren Geschichte, Kultur und Literatur, sondern auch für deren Religion, den Islam. Wie keiner der grossen Dichter deutscher Sprache hat er sich auf einen Dialog mit einem muslimischen Poeten eingelassen, auf die Dichtungen im „Diwan“ des Persers Mohammed Schemsed-din Hafis (1315-1390.) und diesen seinen Dialog in einen eigenen letzten grossen Gedichtzyklus verwandelt: seinen „West-östlichen Divan“ von 1819. Von keinem der grossen Dichter sind Verse wie diese bekannt: „Närrisch, daß jeder in seinem Falle / Seine besondere Meynung preist! / Wenn Islam Gott ergeben heißt, / Im Islam leben und sterben wir alle“ (11.1.2, 61). Das verlangt Aufklärung.

Diese aber fällt heute in eine dem Islam gegenüber politisch aufgeheizte, ja teilweise vergiftete Zeit hinein wie ein Meteorit aus Himmelshöhen. Niemand kann den gesellschaftlichen Kontext übersehen. Spielerei liegt mir dabei völlig fern. Dazu sind die Zeiten zu ernst, weil, bedingt durch erlebte Erschütterungen, das Bild von „dem“ Islam bei Ungezählten aufs Politisch-Bedrohlich-Gewalttätige reduziert ist. Wider die „schrecklichen Vereinfacher“ auf beiden Seiten aber, mit denen schon Goethe im Zeitalter einer Islamverachtung der Kirchen und der fortdauernden Türkenkriege konfrontiert war, gilt es, für die Komplexität einer Kultur und Religion zu streiten, die eine gut 1.500 jährige Geschichte aufzuweisen hat. Ihnen muss wie allen anderen Weltkulturen und Weltreligionen Gerechtigkeit im Urteil widerfahren. Das ist nichts anderes als ein Gebot der Aufklärung, dem schon Goethe gefolgt ist.

Dem dient auch meine Studie „Goethe und der Koran“. Sie verbindet die Dokumentation aller relevanten Goethe-Texte zu Koran und Islam mit einem geschichtlich einordnenden Kommentar auf dem Niveau der heutigen Forschung und mit 15 Kalligraphien zu Goethe-Versen durch einen begnadeten Kalligraphen unserer Zeit, Shahid Alam. Die Zusammenarbeit mit ihm bot sich schon deshalb an, weil Goethe sich selber intensiv in der „Divan“-Zeit mit kalligraphischen Übungen der arabischen Schrift befasst hat. Ziel des Buches ist es, das komplexe Orient/Islam- Bild Goethes aus den Quellen zu erheben und in einen heutigen Diskurs über Interreligiosität und Interkulturalität einzubringen. Was aber lässt sich auf der Basis einer gut 430 Seiten umfassenden Studie zusammenfassend festhalten, was Lust auf das Ganze machen könnte?

Überblickt man das Werk, kann man von drei „Islams“ bei Goethe sprechen, besser: von drei Dimensionen seiner Islam-Rezeption: die religionsgeschichtlich-religionswissenschaftliche (I) die partiell identifikatorische (II) und die spirituelle (III).

I.

Zur religionsgeschichtlich-religionswissenschaftlichen Rezeption gehört die Tatsache: Während Kirchen- und Aufklärerkreise in seit Mittelalter und Reformation erstarrten Klischees verharren und Mohammed als „Betrüger“, „falschen Propheten“ oder als skrupellosen Machtmenschen verwerfen, verschafft Goethe sich gründliche Kenntnisse vom Koran und der Biographie des Propheten. Dessen charismatische Erscheinung sollte in einem eigenen Drama gespiegelt werden, unerhört bis dahin in der deutschen Literatur. Es bleibt unvollendet, aber unvergessen . Entwürfe dazu sind im Nachlass vorhanden. Anfangs sieht Goethe den Propheten im Geist des „Sturm und Drang“ als „Genie“ von mitreissender Wirkung, später als „ausserordentlichen Mann“ in seiner politischen Dialektik. Immer aber weiss Goethe ihn auf der Basis neuerer wissenschaftlicher Fachliteratur kritisch, aber sachlich zu würdigen.

Ebenso kritisch-abwägend würdigt Goethe den Koran, den er unter dem Einfluss Herders als herausragendes Sprachdokument einer grossen, auch die Hebräische Bibel einschliessenden orientalischen Kultur zu verstehen sucht. Schon früh fertigt er Abschriften aus einer deutschen Koran-Übersetzung an, die sein Interesse an diesem Buch nachvollziehen lassen. Notiert hat er sich vor allem schöpfungstheologische, ethische und spirituelle Texte, die legalistischen und höllentheologischen hat er mit Schweigen. übergangen. Zur „Divan“-Zeit versucht Goethe dann, sich zum Koran als Dichter „produktiv“ zu verhalten. Entsprechend ist sein Gedichtzyklus voll von Anspielungen auf die ästhetische und schöpfungstheologische Seite des Koran. „Ich sah mit Staunen und Vergnügen, / Eine Pfauenfeder im Coran liegen, / Willkommen an den heiligen Platz! / Der Erdgebilde höchster Schatz“, so beginnt eines der vielen „Divan“-Gedichte mit Koran-Bezügen. Die Kalligraphie dazu ziert nicht zufällig das Cover unseres Buches. Ein anderes Gedicht nimmt die Suren 2, 142 und 2, 115 auf: „Gottes ist der Orient! / Gottes ist der Occident! / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände.“ Neben die Koran- und Mohammed-Studien tritt in der „Divan“-Zeit die Aneignung der islamischen Kulturgeschichte und der persisch-muslimischen Literaturgeschichte hinzu, die Goethe wie den „Diwan“ des Hafis dem österreichischen Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall verdankt. Die Ergebnisse sind nachzulesen im Prosa-Teil des „Divan“, ein Dokument schier unbegrenzter Lust, Neues zu lernen. „Goethe steht mit dem Prosateil auf der Höhe der wissenschaftlichen Orient-Diskussion seiner Zeit“, heisst es denn auch in einer der heute massgebenden Goethe-Ausgaben („Münchner Ausgabe“), ein Urteil, das sich von einer hier zusammen getragenen Liste von gut 120 Einzeltiteln rechtfertigt, welche die „von Goethe benutzte orientalische und orientalistische Literatur“ wiedergibt.

II.

Zur partiell identifikatorischen Islam-Rezeption gehört die Tatsache, dass Goethe in einzelnen Glaubensfragen die Nähe zu islamischen Überzeugungen nicht gescheut hat. Erstaunlich, wie frei und intensiv zugleich er – bei aller ironischen Distanz und literarischen „Deckung“ – mit islamischen „Paradies“-Vorstellungen umzugehen weiss. Im „Divan“ gibt es ein ganzes Buch dazu. „Auch diese Region des Mahometanischen Glaubens hat noch viele wunderschöne Plätze“, kann Goethe schreiben, „Paradiese im Paradiese, dass man sich daselbst gern ergehen, gern ansiedlen möchte“.

Scharf dagegen kann sich Goethe von christlicher Kreuzesverehrung und einer „Vergottung“ Jesu zu einem „zweiten Gott“ distanzieren. Das entsprechende Masken- und Rollengedicht Gedicht „Süsses Kind …“ nimmt das Jesus- und Gottesbild des Koran auf, niedergelegt in Sure 4, 157 und den Suren 5, 125f. und 112: „Jesus fühlte rein und dachte / Nur den Einen Gott im Stillen; / Wer ihn selbst zum Gottes machte / Kränkte seinen heilgen Willen.“ Die entsprechende Kritik an der Zurschaustellung des Kreuzes hat Goethe hier nicht zufällig einem Muslim in den Mund gelegt, den er zu einer Perlenkette seiner christlichen Geliebten sagen lässt: „Und nun kommst du, hast ein Zeichen / Dran gehängt, das, unter allen / Den Abraxas seines gleichen, / Mir am schlechtesten will gefallen. // Diese ganz moderne Narrheit / Magst du mir nach Schiraz bringen! / Soll ich wohl, in seiner Starrheit, / Hölzchen queer auf Hölzchen singen?“

III.

Zur spirituellen Rezeption des Islam gehört das Verständnis von „Glauben“. Schon das erste Gedicht „Hegire“, das den „Divan“ wie ein Eingangstor eröffnet, stellt dies programmatisch heraus, eine Anspielung auf die „Hidschra“ Mohammeds. Der Dichter fühlt sich in ein Lebensmuster des Propheten ein: Aufbruch und Neubeginn aus der Sehnsucht nach Freiheit. In Goethes Fall von den Katastrophen der Zeitgeschichte im Zuge der napoleonischen Kriege. Beschworen wird hier ein ursprünglich „reiner“ Osten als Gegenbild zu einem durch Machtkämpfe in sich zerfallenen „späten“ Westen: „Nord und West und Süd zersplittern / Throne bersten, Reiche zittern / Flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten.“ Zu diesem „reinen Osten“ gehören für Goethe seit Jugendzeit die biblischen Patriarchen-Erzählungen um Abraham, Sara, Hagar, Isaak und Ismael. Er weiss: Sie haben eine Schlüsselbedeutung auch für die koranische Verkündigung und sind zugleich kritischer Spiegel einer in der Tradition erstarrten Form von „Glauben“. Spitzen gegen Orthodoxien und bigotte Pfaffen auf beiden Seiten sind im „Divan“ überdeutlich, Arm in Arm mit Hafis. Diesem herausragenden Poeten und profunden Korankenner fühlt Goethe sich geistig verwandt. Er weiss: „Hafis“ ist kein Name, sondern ein Ehrentitel für den, der den Koran „im Gedächtnis bewahrt“. Mit ihm tritt Goethe in einen Wettstreit: „Und mag die ganze Welt versinken, / Hafis mit dir, mit dir allein / Will ich wetteifern! Lust und Pein / Sey uns den Zwillingen gemein!“

In diesem Geist verspürt Goethe auch keine Hemmungen, „Mahomets Wunderpferd zu besteigen und sich durch alle Himmel zu schwingen“. Ja, der Dichter erklärt öffentlich, er lehne den Verdacht nicht ab, selber ein „Muselman“ zu sein und „ehrfurchtsvoll jene heilige Nacht“ zu feiern, „wo der Koran vollständig dem Propheten von oben her gebracht ward“. Nach muslimischem Verständnis ist dies die in Sure 97 genannte „Nacht der Bestimmung“ (arab.: lailat al-qadr) im Monat Ramadan. Die Wortwahl „ehrfurchtsvoll“ und „heilige Nacht“ erinnert nicht von ungefähr an die Worte, mit denen die Christenheit an Weihnachten ihre „heilige Nacht“ zu feiern pflegt. Heilige Nächte als Zeiten der Zuwendung Gottes zum Menschen sind folglich kein Monopol des Christentums.

Die besondere Nähe des Dichters zur islamischen Spiritualität hat vor allem sein Vierzeiler zum Ausdruck gebracht „Närrisch, dass jeder in seinem Falle / Seine besondere Meynung preist! / Wenn Islam Gott ergeben heißt,/ Im Islam leben und sterben wir alle“. „Gottergebenheit“ ist eine beim altgewordenen Goethe oft genutzte Kategorie für eine grundlegende Lebenseinstellung in allen und durch alle Lebenskrisen hindurch, für die er synonym auch das Wort „Islam“ benutzen kann. Es bezeichnet aber nicht die institutionalisierte, verrechtlichte Religion „Islam“, sondern eine die Religionen übergreifende Grundhaltung des homo religiosus schlechthin. Das Wort wird von Goethe gezielt nach zwei Seiten kritisch eingesetzt: Gegenüber Islamverfechtern, die Goethe gerne für ihre verfasste Religion vereinnahmen wollen und gegenüber Islamverächtern, die nicht wahrhaben wollen, dass es authentische Gottgläubigkeit auch in einer nichtchristlichen Religion gibt. Wer also als heutiger Muslim ohne Selbstkritik an repressiven und totalitären Zügen in seiner Religion bei Goethe „zugreifen“ zu können meint, vergreift sich an ihm. Kostproben zweifelhafter Art liefert das Internet unter dem Stichwort „Goethe und Islam“.

Bei aller produktiven und selektiven Rezeption koranischer Motive und aller partiellen Identifikation mit islamischen Glaubensüberlieferungen denkt Goethe nicht daran, den Islam als gelebte Religion poetisch zu verklären und seine immanenten Machtstrukturen zu verharmlosen. Am „Fall Mohammed“ hat er sich am Problem „Prophet – Poet“ kritisch abgearbeitet und für die Würde und Freiheit der Poesie gestritten. Der „Fall Hafis“ hat ihm das Problem von Freiheit und Repression, von Kritik und Ketzerei, von Glauben und Häresie plastisch vor Augen geführt. Einzelne Tabus islamischer Orthopraxie (Weinverbot) unterläuft Goethe spielerisch mit der Freiheit eines Christenmenschen. Er ist ein Gläubiger, aber kein Rechtgläubiger, nicht anders als Hafis.

Daraus folgt, dass Goethes Einstellung zum Islam nicht nur mit der Aufklärungs-Kategorie „Toleranz“ bestimmbar ist, auch nicht mit der Kategorie „Respekt“ vor einer fremden Religion, sondern sachlich stimmiger mit Kategorien wie „Wertschätzung“, „Lernbereitschaft“ oder „Verwandlungsfähigkeit“. Goethe löst damit am Beispiel Islam das ein, was er als einer seiner Maximen selber festgehalten hat: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen“ Will sagen: „Toleranz“ als blosse „Duldung“ Andersglaubender wäre ein Form geistiger Bequemlichkeit, ja der herablassenden Geringschätzung. „Anerkennung“ setzt Neugierde, Studium, Sich-vertraut-Machen mit der Welt „der Anderen“ voraus – immer auch in kritischer, aber nie verächtlicher Distanz.

Dieser Dichter ist nicht irgendwer in der deutschen Kultur. Wenn gerade er einen exemplarischen geistigen Austausch zwischen Orient und Okzident, Islam und Christentum gefordert und betrieben hat, dann hat dies Modellcharakter. Mehr noch: Dann bekommen wir Nachgeborene Maßstäbe in die Hand, die uns zu Vergleichen herausfordern: Auf welchem Niveau und mit welcher Komplexität hat schon Goethe die Welt des Islam wahrgenommen und rezipiert. Und wir? Und unser Niveau? Unser Wissensstand von islamischer Koranologie, Rechtswissenschaft, Poesie, Philosophie und Mystik? Sind nicht allzu viele bei uns allzu rasch geneigt, den politisch totalitären Islamismus (der Mord und Terror rechtfertigt und den es mit allen Waffen des Geistes und des Rechts zu bekämpfen gilt) zum Alibi zu machen und sich eine komplexere Wahrnehmung der islamischen Welt zu schenken?

Sie haben Goethes Auseinandersetzung mit Orient und Islam noch vor sich.

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe zu Ostern 2021 des „Schwäbischen Tagblatts“, Tübingen

Das Buch „Goethe und der Koran“ erschien Anfang Febr. 2021 im Patmos Verlag, Stuttgart-Ostfildern.