Wie Pessach und Abendmahl zusammen hängen und was für Juden und Christen daraus folgt
Rede zu Pessach 2021 auf Einladung des Vereins für jüdische Kultur (Tübingen)
Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel (Tübingen)
Zwei zentrale Feste zweier grossen Religionen pflegen kalendarisch in dieselbe Zeit zu fallen: das jüdische Pessach-Gedenken und das christliche Passions- und Ostergedenken. An Pessach gedenken Juden in aller Welt im Rahmen einer Hausliturgie („Seder“) mit einer klar bestimmten Abfolge von Speisen, Getränken und Deuteworten des „Exodus“, der Befreiung des jüdischen Volkes aus der Knechtschaft Ägyptens durch Gottes Tat. In der Woche vor Ostern gedenken Christen des Abendmahls, des Leidens, Sterbens und der Auferweckung Jesu durch den Gott Israels. 2020 fiel Pessach auf den 9. April, für Christen der Gründonnerstag, dem Tag des letzten Mahles Jesu mit seinen Aposteln. In diesem Jahr, 2021, fällt Pessach auf den 28. März, den christlichen Palmsonntag, und im nächsten Jahr 2022 feiern Juden ihr Fest am 16. April. Es wird christliche Karsamstag sein. Es ist wie eh und je: Jesu letzte Tage fallen in die Zeit des Pessach-Festes, das zusammen mit dem „Fest der ungesäuerten Brote“ ein fester Bestandteil des jüdischen Kalenders ist. Wird daran aber in christlichen Liturgien der Karwoche erinnert, wo das jüdische Volk überall in der Welt fast gleichzeitig sein Fest feiert? Erinnert an den historisch verbürgten unlösbaren Zusammenhang von Abendmahl, Leiden und Sterben Jesu mit dem Pessach-Fest des Volkes, das sein Volk war und ist?
Dabei spiegelt schon das älteste Evangelium, das des Markus, ein Milieu um Jesus wieder, in dem ganz selbstverständlich das Pessach-Fest Erwähnung findet. Denn Markus leitet seine Erzählung von Jesu Leiden und Sterben nicht zufällig damit ein: „Es war zwei Tage vor dem Pascha und dem Fest der Ungesäuerten Brote. Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten suchten nach einer Möglichkeit, Jesus mit List in ihre Gewalt zu bringen, um ihn zu töten“ (Mk 14,1). Überdies weiß Markus, dass dieses Doppelfest ein Pilgerfest ist und zur Folge hat, dass Massen von Menschen nach Jerusalem hineinströmen. Die Sicherheitslage in diesen Tagen ist prekär. Deshalb lässt Markus die Hohenpriester und Schriftgelehrten von einer Verhaftung Jesu zunächst absehen: „Ja nicht am Fest, damit es im Volk keinen Aufruhr gibt.“ (Mk 14,2). In der Sache dasselbe berichten auch Matthäus (26, 3-5) und Lukas (22,1f.) Ebenso übereinstimmend berichten alle drei Evangelisten („die Synoptiker“) von der Tatsache, dass Jesus sich dem traditionellen Pessach-Ritual zu unterziehen pflegte.
Wie auch anders, da er als Jude aufgewachsen ist? Die drei Evangelisten erzählen davon, dass Jesus kurz vor seinem Leiden – „der Tag der Ungesäuerten Brote“ ist gekommen, „an dem das Paschalamm geschlachtet werden musste“ (Lk 22,7; vgl. Mk 14,12; Mt 26,17) – Anweisungen an seine Jünger gibt zur Vorbereitung des Pessach-Mahls. Gemeint ist der Vollzug der Sederfeier, mit der das Pessach-Fest nach alter Tradition nach Sonnenuntergang am 14. Nisan beginnt. Die markinische Version ist an dieser Stelle etwas karger als die matthäische und lukanische. Lukas weiß sogar, dass es sich um Petrus und Johannes gehandelt hat, die Jesus in Jerusalem losschickt, um eine Herberge anzumieten (Lk 22,8; 11). Sie sind ja auch Pilger von auswärts, die in Jerusalem eine Bleibe suchen müssen, wo sie die Feier abhalten können.
Die Jünger finden denn auch ein Quartier und bekommen einen „großen Raum im Obergeschoß, der mit Polstern ausgestattet ist“ (Lk 22, 12), wie Lukas eigens bemerkt. Das ist weiter nichts Besonderes, denn einer zur römischen Zeit üblichen Sitte zufolge liegt man bei feierlichen Festmahlen wie dem Seder zu Tisch.Jesus kennt diese Praxis offensichtlich von Kindheit an. Lukas jedenfalls legt auf diese Information großen Wert. Ihm zufolge war Jesus schon als Kind mit seinen Eltern „zum Paschafest nach Jerusalem“. (Lk 2,41) gepilgert. Diese waren ihrerseits „jedes Jahr“ gegangen wie Tausende von jüdischen Pilgern auch, und bisher war nichts Besonders bei diesen Reisen vorgefallen. Bis zu dem Jahr, als der 12jährige Jesus mitkommt und zum Schreck seiner Eltern auf der Rückreise nicht aufzufinden ist. Er war im Tempel verblieben und hatte die anwesenden Lehrer derart in Gespräche verwickelt, dass diese nur staunen können „über sein Verständnis und über seine Antworten“ (Lk 2, 47). Pessach als Rahmen einer ersten Selbstdemonstration Jesu als ganz eigener Interpret der Tora!
Alle diese Texte lassen nur eine Schlussfolgerung zu. Zwar sind alle Evangelien erst Jahrzehnte nach Jesu Tod geschrieben worden und als Quelle über den Jesus der Geschichte nur bedingt zu gebrauchen. Warum aber sollten die Evangelisten eine Pessach-Praxis Jesu überliefern, wenn sie nicht auf ihn selber zurückgeht? Hätte er die Pessach-Praxis explizit abgelehnt oder gemieden, wäre das für einen Juden derart ungewöhnlich gewesen, dass man es hätte überliefern müssen. So dürfte es historisch gute Gründe für die Feststellung geben: Jesus hat als Kind frommer jüdischer Eltern seiner Zeit von Kindheit an die Wallfahrts- und Festpraxis rund um Pessach kennengelernt, sie während seines öffentlichen Wirkens ganz selbstverständlich geübt und so um die inhaltliche Bedeutung dieses großen Pilger-Festes seines Volk gewusst.
Wenn dem aber so ist: Hat dann Jesus auch sein letztes Mahl mit seinen Jüngern als traditionell-jüdisches Sedermahl gefeiert? Diese Frage ist zwischen Christen und Christen, aber auch zwischen Juden und Christen bis in die Gegenwart hinein hoch umstritten. Das hat zweifellos mit dem Faktum zu tun, dass für Christen mit dem Letzten Abendmahl Jesu immerhin ein Herzstück ihres Glaubens und ihrer Liturgie auf dem Spiel steht. Da möchte man möglichst eindeutig das Selbstverständnis Jesu geklärt und damit die entscheidende Frage beantwortet haben: War Jesu Letztes Mahl mit seinen Jüngern vor seinem Leiden und Sterben das übliche traditionelle jüdische Sedermahl oder etwas ganz Eigenes, etwas ganz Neues?
Die ersten drei Evangelisten lassen keinen Zweifel daran, dass Jesu letztes Mahl mit seinen Jüngern ein Sedermahl gewesen ist. Allen drei zufolge stand das Pessach-Fest vor der Tür, als sich Jesu Konflikt mit den religiösen Autoritäten seiner Zeit zuzuspitzen begann. Ausdrücklich ein „Paschamahl“ (Mk 14,16; Mt 26,18; Lk 22,13) lässt Jesus seine Jünger in Jerusalem vorbereiten, zu dem er sich dann auch am „Abend“, sprich: nach Sonnenuntergang zu Tische setzt (Mk 14,17; Mt 26,20; Lk 22,14). Nach dieser Chronologie ist es der Abend des 14. Nisan, der Abend vor dem Pessach-Fest und dem „Fest der Ungesäuerten Brote“, an dem im Tempel zu Jerusalem die Pessach-Lämmer geschlachtet werden. Markus (14,12), Matthäus (26,17) und Lukas (22,7) sind hier ganz präzise. Lukas zufolge hat Jesus an diesem Abend zu seinen Jüngern gesagt: „Ich habe mich sehr danach gesehnt, vor meinem Leiden dieses Paschalamm mit euch zu essen. Ich sage euch: Ich werde es nicht mehr essen, bis das Mahl seine Erfüllung findet im Reich Gottes“ (Lk 22, 16f.).
Solche und andere Aussagen lassen keinen Zweifel zu, dass die Synoptiker gezielt sowohl einen zeitlichen als auch einen symbolisch-theologischen Rahmen setzen und damit zunächst einmal Kontinuität zwischen der Pessach/Exodus-Überlieferung und dem Letzten Abendmahl Jesu herstellen. Dass sie den damals üblichen Ablauf eines Sedermahls im Detail nicht schildern, auch mit keinem Wort inhaltlich auf die für Pessach nun einmal zentrale Exodus-Überlieferung eingehen, ist kein Gegenbeweis. Keiner der Synoptiker – Berichte versteht sich als Protokoll von geschichtlichen Vorgängen. Sie überliefern das, was für sie und ihre Adressaten entscheidend ist: die zentralen Zeichenhandlungen Jesu. Der Hinweis „Pessach-Mahl“ genügt ihnen, um ihre christlichen und jüdischen Adressaten wissen zu lassen, in welchem Deutungs-Rahmen Jesus sich bei seinem letzten Mahl bewegte. Entscheidend sind dann aber die von Jesus in diesem Rahmen gesetzten Zeichen und die Weise, wie er die Elemente dieses Rahmens für sich und seine Anhänger neu deutet.
Elemente des Ablaufs einer Sederfeier sind durchaus noch erkennbar. Lukas hat sie noch am deutlichsten aufbewahrt (Lk 22, 15-20), wobei auch er nicht eins zu eins abbildet. Aber wir erkennen bei ihm noch deutlicher als bei anderen gleichsam wie bei einer Röntgenaufnahme noch die Struktur, die im Hintergrund gewesen sein muss: Feierliches Mahl während der Nacht im zur Festzeit übervölkerten Jerusalem an einem vorbereiteten Ort. Dann zu Beginn der Feier ein erster Kelch mit Wein, dazu ein Dankes- und Verteilungswort, wobei es sich um eine Anspielung auf den Kiddusch-Becher beim Seder handeln dürfte. Dann der Sitte entsprechend vor dem Hauptmahl Brot, ein Dankgebet, das Brechen des Brotes und Verteilen des Brotes mit einem Deutewort. Ob es sich dabei wie beim Seder üblich um „ungesäuertes Brot“ gehandelt hat, wird ausdrücklich nicht gesagt, es besteht aber auch kein Grund, es auszuschließen. Dann die Hauptmahlzeit und „nach dem Mahl“ (Lk 22,20) ein weiterer Kelch mit einem entsprechenden Deutewort (Lk 22,20), ganz offensichtlich eine Anspielung auf den bei einem Seder nach der Hauptmahlzeit gereichten 3. Becher, den Segensbecher. Markus und Matthäus wissen schließlich noch von einem „Lobgesang“ (Mk 14,26; Mt 26,30), mit dem Jesus und die Seinen ihre Feier abgeschlossen haben, bevor alle in dieser besonderen Nacht „hinaus an den Ölberg“ gehen (Mk 14,26; Mt 26,30; vgl. Lk 22,39), eine Anspielung ganz offensichtlich auf das abschließende „Pascha-Hallel“ auf der Basis von Ps 115 und 116. Auch die Tatsache, dass Jesus mit seinen Aposteln Jerusalem nicht verlässt, entspricht der Pessach-Praxis, war doch nach Dt 16,7 die Pessach-Nacht noch im Stadtgebiet zu verbringen.
Diese Rekonstruktion ergibt für Jesu Sederfeier folgendes Bild, das man mit dem Tübinger evangelischen Neutestamentler Peter Stuhlmacher so umschreiben kann: „Das Ritual von Vorspeise und Passaliturgie scheint von ihm (Jesus) vollzogen worden zu sein, wie es Sitte war; hier wurden auch das ungesäuerte Brot und die Bitterkräuter gedeutet. Für das Hauptmahl aber gibt die Passahaggada keine festen Regeln mehr. Es war nur üblich, dass der Hausvater zu Beginn über dem (ungesäuerten) Brot das Dankgebet sprach, das Brot brach und den Tischgästen austeilte. Diesen Brauch benutzte Jesus, um nach dem Dankgebet das Brotwort zu sprechen. An dieses Wort schloss sich die ganze (Passa-)Hauptmahlzeit an. An ihrem Ende pflegte der Tischherr über dem ‚nach dem Mahle’ gereichten (dritten) Becher (vgl. Lk 22,20; 1 Kor 11,25) das Dankgebet für die Mahlzeit zu sprechen, und dann leerten alle Mahlteilnehmer ihren Becher. Diese Sitte gab Jesus die Möglichkeit, das Kelchwort zu sprechen und – entgegen dem üblichen Brauch – die Zwölf aus einem einzigen ‚Segensbecher’ trinken zu lassen.“ (Biblische Theologie des NT. Bd.1. Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, S. 134f.
Für Christen folgt daraus: Die Erinnerung an die Bedeutung des Pessach-Festes bleibt unverzichtbar für das Verständnis ihrer eigenen Geschichte. Juden und Christen sind hier untrennbar aufeinander verwiesen, denn ohne diesen Deutungsraum wäre ihre eigene Gedächtnisfeier buchstäblich wurzellos. Wird daran aber, sprich: an der in den Urkunden selber verbürgten engen Verbindung von Pessach als großem Fest des Judentums und Passion/Ostern als zentralem Fest der Christenheit, in Gottesdiensten erinnert? Wird in den Abendmahls-, Karfreitags- und Osterliturgien christlicher Kirchen überall auf der Welt darauf hingewiesen werden: Wer als Christ des Abendmahls und der Passion Jesu gedenkt, wer Ostern feiert, sollte zugleich um Pessach wissen: um das, was Juden seit Jahrhunderten mit diesem Fest verbinden, der/die sollte zugleich der Verbindung gedenken, welche diese Ereignisse von Anfang an mit dem Judentum herstellen. Ostern feiern – mit dem Rücken zum Judentum? Das jüdische Fest ignorieren, als hätte es mit Jesus Christus nichts zu tun?
Faktisch aber leben wir religiös noch weitgehend mit dem Rücken zu Anderen. Mit Tunnelblick nur für das Eigene. Mit heruntergeklapptem Visier, das uns daran hindert, die Gegenwart des Andersglaubenden als Anders-Glaubenden wahrzunehmen. Stattdessen gilt es, die Präsenz des je Anderen vor Gott mit zu bedenkt. Ich skizziere einige Konsequenzen:
1. Wenn Christen zum „Herrenmahl“ zusammenkommen, wenn sie unter den Zeichen von Brot und Wein sich an Tod und Auferweckung Jesu Christi erinnern, sind sie immer schon verbunden mit der Geschichte des Volkes, das Gott als den Befreier aus der Knechtschaft erfahren und das Gott sich als sein Bundesvolk erwählt hat. Im Brechen des Brotes und im Austeilen des Kelches mit Wein sind Christen rückgebunden an den Ritus, den Jesus bei seinem letzten Mahl vollzog, als er nach jüdischem Brauch das Sedermahl mit seinen Jüngern einnahm. Undenkbar eigentlich, dass Christen je diese innere Verbindung von Seder und Abendmahl vergessen dürften, dass sie „Gründonnerstag“ feiern mit dem Rücken zum Judentum, israelvergessen, israelverleugnend. „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ wird nur dann nicht zur geschichtsblinden Gedächtnislosigkeit, wenn Jesu Judesein bis in die letzten Tage seines Wirkens nicht unterschlagen, bagatellisiert oder theologisch überspielt wird.
2. Wenn Juden zur jährlichen Sederfeier zusammenkommen, feiern sie alter Tradition gemäß ein Fest der Freiheit von aller Knechtschaft und erinnern sich voll Dankbarkeit an das, was Gott für das Volk Israel getan hat. Dass aber nach dem Exodus aus Ägypten Israel neue Knechtschaftserfahrungen nicht erspart blieben, ist ebenfalls unauslöschlicher Bestandteil jüdischer Erinnerungskultur: Zerstörung des 1. Tempels und Babylonisches Exil, Rückkehr, Zerstörung des 2. Tempels, und Zerstreuung unter die Völker, Holocaust! Und zwei Jahrtausende war es die Christenheit, die jüdisches Leben immer wieder dem Auslöschungsdruck aussetzte: durch erzwungene Taufen, bürgerliche Assimilation oder physische Vernichtung. Dass unter diesen geschichtlichen Bedingungen Juden wenig Neigung verspürten und verspüren, ihrer am Sederabend praktizierten Gedächtniskultur das Eingedenken des Juden Jesus und seiner Wirkungen in der Welt hinzuzufügen, ist nur zu begreiflich. Was ist Juden nicht alles im Namen Jesu Christi angetan worden?
Gleichwohl dürfte auch für Juden nicht gleichgültig sein, dass sie nicht nur im Negativen, im Leiden und in Todesängsten, mit der christlichen Welt verbunden bleiben, sondern auch im Positiven. Es sind jüdische Gelehrte, die heute nach einer nun auch schon gut 200 Jahre alten Rezeptionsgeschichte Jesu (von Abraham Geiger bis Martin Buber) mit einigem Stolz darauf verweisen, das uns „in den synoptischen Evangelien Jesus, der Jude“ begegnet, so Rabbiner Walter Homolka heute. Sie signalisieren damit auf ihre Weise, dass zur jüdischen Gedächtniskultur auch Botschaft und Praxis Jesu gehören, eines Juden des ersten Jahrhunderts, der wie nur wenige seines Volkes das Antlitz der Erde veränderte. Juden sind von daher mit Christen unlöslich über den Juden Jesus verbunden. Solche Einsichten könnten dazu dienen, bei jeder jüdischen Sederfeier auch auf den Mann aus Nazaret zu verweisen, der mit seinen Jüngern vor seinem Tod das Sedermahl einnahm und damit die Christenheit ein für allemal zum Gedenken an die Geschichte Gottes mit Israel verpflichtete.
Zur Vertiefung:
Karl-Josef Kuschel, Festmahl am Himmelstisch. Wie Mahlfeiern Juden, Christen und Muslime miteinander verbindet, Stuttgart-Ostfildern 2013.