Nachdenken über die Pandemie – Was macht die Krise mit uns?
Es ist wahrhaftig nicht leicht, eigene passende Worte zu finden, wo in den Medien seit Wochen über nichts anderes als über Corona und die Folgen geredet wird und es ungezählte Meinungen dazu gibt. Und doch drängt es mich, einige persönliche Gedanken zu Papier bringen. In der Hoffnung, sie möchten helfen, besser zu verstehen, was die Krise mit uns macht.
Erinnerung. Immer wieder habe ich mit Studierenden Albert Camus‘ „Die Pest“ gelesen. Ein Widerstandsroman, während des Kriegs geschrieben, als Camus Redakteur der Widerstandszeitung „Combat“ im von der Wehrmacht besetzten Frankreich ist. 1947 erschienen. Besonders beeindruckt hat mich stets der Konflikt zwischen einem Arzt, Dr. Rieux, der tapfer gegen den Pesttod in seiner Stadt ankämpft, und einem Priester namens Pater Paneloux. Anfangs noch unangefochten und selbstsicher stellt der Gottesmann in einer öffentlichen Predigt die Epidemie zunächst noch als berechtigte „Strafe Gottes“ für die Sünden der Menschen dar. Anschliessend am Krankenbett aber erlebt er die Agonie eines Kindes, und all seine noch so flehentlichen Gebete ändern daran nichts: „Mein Gott, rette dieses Kind“. „Bestraft“ Gott auch ein Kind? Für welche Sünden denn? Seine Verlegenheit kleidet der Priester in den Satz: „Aber vielleicht müssen wir lieben, was wir nicht verstehen“. Die Antwort des Arztes ist scharf: Er habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und er werde sich „bis zum Tode weigern, eine Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert“ würden. Ich gestehe, dass, so oft ich die Camuschen Texte las, ich stets auf der Seite des Arztes war gegen den Priester.
Wie aber hätte ich ahnen können, dass ich im Frühjahr 2020 noch einmal zur „Pest“ greifen würde: dem Roman in der Weltliteratur, in dem eine Massenseuche in ihren Wirkungen auf Menschen paradigmatisch beschrieben ist. Plötzlich ist Camus‘ Roman wieder das Buch der Stunde, rasch in den Buchhandlungen vergriffen. Der Rowohlt Verlag druckt in höchster Eile die 90. Auflage nach! Ein merkwürdig zwiespältiges Gefühl, jetzt, als Altgewordener „Die Pest“ noch einmal zu lesen, noch einmal anders existentiell betroffen als früher. Denn jetzt gehöre ich plötzlich medizinisch zu der Gruppe der Risikopatienten, vom Alter und von den Vorerkrankungen her. Jetzt stosse ich auf andere Sätze in diesem Roman, die mich nachdenklich machen. Wie diesen zum Beispiel: „Jetzt wird man ohne weiteres zugeben, dass unsere Mitbürger in keiner Weise auf die Ereignisse vorbereitet waren, die sich im Frühjahr dieses Jahres abspielten.“ Oder diesen über einen Nachbarn des Arztes: „Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn kenne. Aber man muss sich gegenseitig helfen. Nicht alle werden, damals wie heute, so edel sein.“
Beobachtung: Die Zeit ist aus den Fugen, um ein berühmtes Shakespeare-Wort aufzunehmen. Einige Wochen hatten wir uns den Ausbruch der Epidemie in China angesehen. Weit weg. Es betraf uns nicht. Als dann Heimkehrer aus dem Ausland den Virus bei uns einschleppten, glaubten wir, durch Quarantäne-Massnahmen die Sache schon im Griff zu haben. Doch dann die Pandemie. Und über Nacht war unser gewohntes Leben nicht mehr dasselbe. Eine beispiellose Zäsur, für die es keine Vorerfahrungen gibt: das öffentliche Leben lahmgelegt, Geschäfte, Kindergärten, Kitas, Schulen, Universitäten, Sportstätten, Restaurants, Clubs geschlossen. Bundesligen, Olympia, Bayreuth – verschoben ins nächste Jahr. Ein ganzes Volk mit Kontakteinschränkungen überzogen. Elementare soziale Kontakte: plötzlich eine Gefahrenzone. Bleibt ja auf Distanz! Wann hätte es das je gegeben? Nicht zu reden von den wirtschaftlichen und finanziellen Einbrüchen.
Was macht sie mit uns, diese Zäsur, frage ich mich, seit ich wie ungezählte Andere in häuslicher Zurückgezogenheit zu leben habe. Seit die Begegnung mit anderen Menschen nicht Kontaktfreude, sondern Kontaktängste auslöst. Seit ich nur noch über Maschinen angstfrei kommunizieren kann? Welche Deutung gebe ich dem Ganzen?
Nachdenken: Ist das, was wir die Corona-Krise nennen, nur eine vorübergehende Störung, die es mit Vorsicht und Geduld zu überstehen gilt? In Deckung bleiben, bis alles vorbei und das gewohnte Leben wieder möglich ist? Als wirtschaftlich Betroffener die Hilfestellungen der Politik in Anspruch nehmen, um den Betrieb, das Restaurant, das Geschäft, die Firma wieder flott zu machen? Rettungsschirme, Nachtragshaushalte, Konjunkturprogramme: Wir werden schon durchkommen! Oder geht es um mehr? Ich meine, Ja.
Ein erstes: Ich spüre, dass mir die „Reparaturmassnahmen“, so wichtig sie selbstverständlich für die Betroffenen sind, nicht ausreichen, um das zur Sprache zu bringen, was die globale Krise an Erfahrungen in mir ausgelöst hat. Es ist die Urerfahrung des Lebens schlechthin: Lange scheint oberflächlich alles stabil: Familie, Einkommen, Auskommen. Doch dann der Einbruch, unerwartet, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt. Man ist nicht vorbereitet. Ich selber habe zu Beginn dieses Jahres, noch bevor die Pandemie unser Leben bestimmte, zwei Krisen meiner Gesundheit in kurzer Zeit durchzustehen gehabt. Ich weiss, wovon ich rede, wenn ich von Fragilität und Instabilität des eigenen Körpers rede. Andere Menschen haben ungleich Schlimmeres durchgemacht. Aber ich spüre zugleich: In einer Krise können wir wieder neu lernen, diese unsichtbare, aber uns aufgezwungene Gefahr als Grundbedingung unseres Lebens zu akzeptieren. Annahme seiner selbst, Versöhntheit mit der eigenen Endlichkeit ist das von Philosophen genannt worden. Wir bewegen uns zwischen Geburt und Tod nie auf einem unsinkbaren Boot, sondern auf einem recht labilen Floß. Jede Reise, jede Teilnahme am Strassenverkehr, jeder Gebrauch einer Maschine, jede Autofahrt, jede Beziehung zu einem Menschen setzt uns Risiken aus, die wir nicht beherrschen. Wir müssen uns im Vertrauen darauf einlassen. In der Sprache der Psychologie heisst das Grund- oder Lebensvertrauen. Ohne dieses könnten wir keinen Tag leben.
Ein zweites: Diese Urerfahrung eines jeden von der prinzipiellen Brüchigkeit und Instabilität unseres Lebens machen wir jetzt auf der kollektiven Ebene. Die tückisch zuschlagende Seuche entzaubert Sicherheitsillusionen und Omnipotenzphantasien und macht uns die „Unverfügbarkeit“ unseres „In-der-Welt-Seins“ neu bewusst. Und diese prinzipielle Unverfügbarkeit stellt eine „verwaltete Welt“ wie die unsrige in Frage, die sich immer stärker in ihrer Immanenz abgedichtet hat, in der alles angeblich berechenbar, verfügbar, versicherbar ist und die nur eine Vernunft ernst nimmt, die der Zweckrationalität. Ihr hat sie sich ausgeliefert und wurde so zur Geisel ihrer eigenen Reduktion alles Lebendigen auf das funktional Machbare, das technologisch Effiziente und das ökonomisch Kalkulierbare.
Einen „Gotteskomplex“ hat der Psychologe Horst-Eberhard Richter unserer Zeit attestiert und schon 2005 ein erhellendes Buch dazu vorgelegt: „Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen“. Und man muss weder Kulturpessimist noch erst recht ein Technologiefeind sein, um zu erkennen: In der Zwischenzeit muss die Richtersche Diagnose verschärft werden. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hat in seiner „Geschichte von morgen“ vorgeführt, dass der „Homo Sapiens“ dabei ist, sich in einen „Homo Deus“ zu verwandeln und zwar mit Hilfe neuer, gottähnlicher Technologien wie künstliche Intelligenz und Gentechnik. In der Tat können wir Menschen mittlerweile mit unserer Welt mehr anstellen als wir uns noch vorstellen können. Ein wildgewordener „Raubtierkapitalismus“ (H. Schmidt) und ein rücksichtsloser Umgang mit den Weltklima und den natürlichen Ressourcen sind nur zwei der Folgen. Die Pandemie eine dritte, Gnadenlos werden uns die Schattenseiten einer global vernetzten Weltgesellschaft vor Augen führt.
Ein drittes: Der nicht beherrschbare Virus lehrt uns, uns wieder auf unser Mass zu besinnen. Die erzwungene Entscheunigung unseres Alltagslebens ist auch eine Chance, Resourcen in uns zu erwecken, die oft genug verdrängt wurden oder verkümmert sind. Viele nennen das eine neue Rückbindung an spirituelle Quellen. Das fängt mit Rückzug zu unverzwecktem Lesen, Musikhören oder Wandern an und kann bis zu regelmässigen Meditationen oder Betrachtungen gehen. Auch Gebete können helfen. Sie wären Ausdruck nicht von Schwäche, sondern von menschlicher Bedürftigkeit, für die sich niemand schämen muss. Ausdruck auch von innerer Widerstandsfähigkeit gegen die Dämonen der Angst. Freigewordene Zeit macht auch eine neue Gesprächskultur in der Partnerschaft oder der Familie möglich, oft genug im hektischen Alltag verschleudert. Und zum menschlichen Mass gehören nicht zuletzt Maßstäbe des Ethos. Man muss nicht den grossen Friedrich Hölderlin bemühen (aber er hat recht: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“) um wahrzunehmen, dass die Krise auch ein grosses Mass an Solidarität, Fürsorge, Krankenpflege, Ernteeinsätze und vieles andere Hilfreiche ausgelöst hat. Moralische Kräfte sind freigesetzt worden, die ein Volk erst zu einem Volk und nicht zu einer Ansammlung von Individualisten und Egoisten macht.
Anders gesagt: Die Erfahrung der Instabilität des eigenen Lebens ist oft zugleich auch Anlass zur Dankbarkeit den Menschen gegenüber, auf deren Einsatz man in der Krise mehr denn je angewiesen ist. Da helfen schon kleine Signale der Achtsamkeit, um einen Schlüsselbegriff aus der Welt des Buddhismus aufzunehmen. An einer Haustür in unserer Nachbarschaft entdecke ich in diesen Tagen einen Zettel, auf dem die Hausgemeinschaft sich bei dem Briefträger und dem Paketboten bedankt, die nach wie vor ihren Job machen. Sie seien „die wahren Helden des Alltags“, lese ich. Nicht wenig beschämt. Ich hatte nicht daran gedacht. Dasselbe gilt für die Männer und Frauen, die unsere Supermärkte und Apotheken offenhalten, die in Arztpraxen, Teststationen oder Kliniken unermüdlich ihren Dienst tun und oft genug noch um Schutzkleidung für sich selber kämpfen müssen …
Ein viertes: Die Seuche macht bekanntlich auch vor Gotteshäusern nicht Halt. Synagogen, Moscheen und Kirchen sind für gottesdienstliche Versammlungen ebenfalls geschlossen. Die Zeiten sind vorbei, in denen man glaubte, eine Krankheit wegbeten zu oder rasch mit überkommenen theologischen Mustern erklären zu können. Im Gegenteil. Die Leere unserer Gotteshäuser sollte Anlass zur selbstkritischen Betrachtung des gewohnten religiösen Betriebs und der traditionellen religiösen Sprache sein. Ich empfinde es als oft unerträglich, wie Angehörige meiner Zunft die Krise mit verschlissenem Vokabular überspielen, als wäre nichts geschehen, als seien Massenerkrankungen und Massensterben keine Anfechtung im Glauben. Wem es zunächst einmal nicht die theologische Sprache verschlägt, hat von der Tiefe der Krise nichts begriffen. Verstummen, Schweigen, Innenhalten und dann nach dem passenden Wort für einen betroffenen Menschen suchen ist das Gebot der Stunde. Und vor allem Zuhören denen, die in die Krise geraten sind. Empathie nennt man das.
Ein fünftes: Die gegenwärtige Krise dauerte auch in der sog. Karwoche an. Es ist die Zeit, in der in christlichen Gemeinden in einer nie zuvor gekannten Dichte des Lebens, des Leidens, des Sterbens und der Auferweckung Jesu Christi gedacht wird. Eine Zeit aber auch, die gerade einem Christenmenschen fast alles zumutet: Anfechtung im Glauben und Hoffnung im Glauben. Schärfst mögliche Krise durch Passion und Tod und ein widerständiges Dennoch im Glauben an den „Tod des Todes“. Nein, die Karwoche ist keine Zeit des billigen Trostes, der abgedichteten Glaubenssicherheit, der spirituellen Wellness-Erfahrung. Im Gegenteil. Ein Angebot zu ritueller Einübung in die Versöhntheit mit der eigenen Sterblichkeit und einer Hoffnung auf das „ganz Andere“.
Die Dramaturgie dieser Woche ist denn auch kaum zu überbieten. Gründonnerstag: Das Abschiedsmahl Jesu zu seinem Gedächtnis mit den Gefährten und dem Verräter aus dem engsten Kreis am selben Tisch. Dann der Verrat, die Verhaftung, die Verhöre, die Folterung und der Gang zum Kreuz. Mit einem Schrei der Gottverlassenheit endet ein Leben, das im Zeichen des Gottvertrauens gestanden hat. Und dann die Auferweckung zu neuem Leben, der Sieg über den Tod, die Hoffnung für alle Sterblichen im Glauben an den auferweckten Gekreuzigten. Oft schwer zu entscheiden, welche Zumutung grösser ist: den Schrei des Gekreuzigten auszuhalten oder die Botschaft vom „Tod des Todes“ für möglich zu halten, getragen von dem, was in der Glaubenssprache „geprüftes Gottvertrauen“ heisst. Ein Gottvertrauen, das die Krisen nicht verdrängt, sondern durchzustehen weiss.
Dieses Vertrauen ist auf äussere Leistungen und Erfolge nicht angewiesen. Dass zum Beispiel Petersdom und Petersplatz zu Rom in diesem Jahr menschenleer bleiben werden, hat für mich als Christenmenschen nichts Gespenstisches. Diese Leere ist Anlass zur Selbstkritik und Ausdruck eines Glaubens, dem es nicht um Sicherheiten geht. Es erinnert mich an eine Szene aus der Karfreitagsliturgie, die mich schon als Kind schwer beeindruckt hat. Während des Gottesdienstes wurde das Kreuz verhüllt, der Altar abgeräumt, der Tabernakel geöffnet. Eine rituell-liturgische bewusst hergestellte Leere – um Gottes willen. Ausdruck des Respektes vor der Verborgenheit Gottes, dem Rückzugs ins Unbekannte, ins Dunkle und nicht Verfügbare. Sie hält das Bewusstsein wach, dass Glauben ein Risiko ist, ein Wagnis, zugleich aber davon lebt, dass Gott im Geist präsent bleibt. Sein Segen kann überall dort empfangen werden, wo Menschen sich ihm öffnen. Und dieser Segen ist zugleich die Quelle eines Ethos der Humanität, die Menschen fähig macht, über die eigene Interessenlage hinaus sich dem Bedürftigen, Kranken und Schwachen zuzuwenden.
In diesem Sinn möchte ich Ihnen, ihren Partnerinnen und Partnern und ihren Familien bewusst auch in diesem Jahr ein widerständiges, hoffnungstiftendes „frohe Ostern“ zurufen. Und ich gebe Ihnen eine Strophe aus einem irischen Reisesegen mit auf den Weg:
„Bis wir uns einmal wieder sehen,
hoffe ich, dass Gott Dich nicht verlässt,
er halte Dich in seinen Händen,
doch drücke seine Faust Dich nicht zu fest.“
Passen Sie auf sich auf und bleiben Sie gesund!
Aus: Schwäbisches Tagblatt vom 11. April 2020
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