Predigt zum 3. Fastensonntag 2021
St. Petrus, Tübingen-Lustnau
7. März 10 Uhr
Prof.Dr.Karl-Josef Kuschel (Tübingen)
Schrifttext 1 Kor 1, 18-25
18 Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft. 19 In der Schrift steht nämlich: Ich werde die Weisheit der Weisen vernichten und die Klugheit der Klugen verwerfen. 20 Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer in dieser Weltzeit? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt? 21 Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten. 22 Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. 23 Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, 24 für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. 25 Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen.
In unserer Kirche vollzieht sich seit Monaten eine Art Kulturkampf zwischen „oben“ und „unten“. Immer wieder neu kocht das hoch, was man den „Missbrauchsskandal“ nennt. Die Verantwortlichen in den Diözesen bekommen ihn nicht los, gerade weil sie sich auf Transparenz und Opferschutz verpflichtet haben, dabei aber in vielen Fällen versagen. Und immer dringender und nachhaltiger meldet sich die Reformbewegung Maria 2.0 zu Wort. Frauen und Männer fordern von der Kirchenleitung volle Partizipation bis hinein in die kirchlichen Weiheämter. Doch auch hier Blockagen, Vertröstungen, theologische Scheinargumente, Verharren in alten patriarchalen Strukturen. Unfähigkeit bei den Verantwortlichen der Kirchenleitung, den egalitären Geist der Geschlechtergerechtigkeit als Geist des Evangeliums zu akzeptieren und Konsequenzen daraus zu ziehen. Und ich spreche all denen auch in dieser Gemeinde meinen Respekt aus, Frauen und Männern, die in diesem Geist nicht müde werden, in unserer Kirche die überfälligen Reformen anzumahnen und dabei der Devise folgen, die im Blick auf Kirche auch die meine ist: Nicht austreten, sondern auftreten.
Als katholische Christenmenschen aber schauen viele der kirchenpolitischen Entwicklung in einer Mischung als Zorn und Verzweiflung zu. Zorn über den selbstverschuldeten Glaubwürdigkeitverfall in einer Zeit, in der ein nationales Wort angesichts der Pandemie dringend nötig wäre. Verzweiflung darüber, dass die Rolle, die Kirche in unserer Gesellschaft einnehmen könnte und müsste, derart verspielt wird: Gewissen der Nation zu sein. Die Spötter und Zyniker, denen „Kirche“ ohnehin „egal“ ist, haben Oberwasser. Das ärgert mich, weil es ihnen so leicht gemacht wird. Mir aber und Ihnen auch, die Sie zu diesem Gottesdienst gekommen sind, uns, sage ich, ist eine auf die Urbotschaft verpflichtete Kirche nicht „egal“, weil unsere Gesellschaft eine prophetische Stimme wider bestimmte Verfallserscheinugen dringend nötig hat und auch eine Instanz der Orientierung an Werte ohne Verfallsdatum.
Fassungslos aber müssen wir mit ansehen, dass die Botschaft, die „Kirche“ den Menschen gerade im Blick auf die Karwoche und auf Ostern zu vermitteln hätte, kaum eine Chance hat. Paulus nennt sie „das Wort vom Kreuz“. Er meint damit nicht die Kreuzigung Jesu als brutum factum, die für Paulus ausser Frage steht, sondern das von Gott gedeutete Zeichen. Was sagt es über Gott selbst, wenn er seinen Sohn einem solchen Schandtod aussetzt und er zugleich durch die Auferweckung aus dem Tod zu ihm steht?
Dabei macht Paulus sich nichts vor. Er weiss: Von einem gekreuzigten Gottessohn zu reden und damit eine theologische Botschaft zu verbinden, ist für die Heidenwelt, so wörtlich, „Torheit“, blanker Un-Sinn also. Man erinnert sich an eine berühmte Stelle in der Apostelgeschichte. Ich meine die Stelle, in der Paulus auf das intellektuelle Milieu Athens getroffen ist, auf gebildete Griechen also. Zwar ist die Szene vom Historiker Lukas entworfen, aber die Pointe trifft den geschichtlichen Paulus exakt: „Als die von der Auferweckung eines Toten hörten, spotteten die einen, andere aber sagten: Darüber wollen wir dich ein andermal hören“ (17, 32). Das Wort vom Kreuz also: Heiden ein Unsinn, und Juden – Paulus steigert das noch – ein Skandal. Warum? Weil die Auferweckung eines Gekreuzigten mit dem Gottsein Gottes unvereinbar ist. Paulus kennt die entsprechende Stelle in der Tora, im 5. Buch Moses: „Ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter“. Er zitiert diese Stelle sogar in seinem Brief an die Galater: „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt …“ (Gal 3. 13 = Dt 21, 23).
Für uns kommt hinzu, was Paulus noch nicht wissen kann. Auch Muslime werden später eine Kreuzigung Jesu zurückweisen. In Sure 4, 157 lässt der Koran Gegner Jesu sagen: „Wir haben Christus Jesus, den Sohn Marias, Gottes Gesandten, getötet.“ Und dieser Behauptung wird isofort scharf widersprochen: „Sie haben ihn aber nicht getötet und nicht gekreuzigt, sondern es wurde ihnen der Anschein erweckt … Sie haben ihn sicher nicht getötet, sondern Gott hat ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig und weise.“
Im Koran also wird nicht nur eine Heilsbedeutung des Kreuzestodes Christi ignoriert, sondern mehr: schon das Faktum der Kreuzigung wird geleugnet: Jesus ist nicht gekreuzigt worden! Warum nicht? Um einer aggressiv-feindseligen Polemik gegen Christen willen, so ist dies in christlich-muslimischen Streitgesprächen immer wieder behauptet worden. Vom Wortlaut des Textes aber kann davon nicht die Rede sein. Im zitierten Koran-Text wird diese Leugnung von der Treue Gottes her begründet. Denn Jesus gilt im Koran ein Gesandter Gottes. Arab.: rasûl Allah. Der wichtigste Ehrentitel im Koran. Nur vier Gesandte gibt es. Es sind Schlüsselfiguren der Heilsgeschichte, denen jeweils eine Buchoffenbarung zuteil wurde: Moses die Tora, Jesus das Evangelium, David der Psalter und Mohammed der Koran. Und als ein solch von Gott Erwählter steht Jesus unter Gottes besonderem Schutz. Gott allein entscheidet über sein Leben und sein Sterben, nicht Menschen in ihrer Anmassung.
Scharf und muss deshalb die Behauptung der Gegner Jesu zurückgewiesen werden: „Sie haben ihn aber nicht getötet und nicht gekreuzigt“! Es ist bestenfalls bei der üblen Absicht geblieben. Gott aber hat solches Ansinnen vereitelt und Jesus „zu sich erhoben“. Diese Pointe findet ihre Parallele in der christlichen Erhöhungsaussage. Im Neuen Testament wird Jesus zu Gott erhöht nach seinemTod am Kreuz, im Koran vor einem möglichen Tod am Kreuz. Gott erspart seinem Gesandten einen solchen Schandtod. Er hält ihm auch am Ende die Treue. Alles also vernünftige Argumente, eine Verbindung von Gottes Gottsein mit dem Kreuzestod Jesu für unangemessen zu halten. Und Heiden, Juden und Muslime tragen nicht böswillige Einreden vor, sondern argumentieren von ihrem Verständnis von Gott her.
Dieses „Wort vom Kreuz“ also? Paulus macht es sich wahrhaftig nicht billig. Und damit uns auch nicht. Paulus steht gewissermassen allein da gegen die versammelte menschliche Vernunft, nur auf ein Schriftwort kann er sich berufen: Jes 29. 14. Wir aber wollen ja nicht unsere Vernunft abgeben, wenn wir einer Botschaft glauben. Doch kühn, tollkühn gar dreht Paulus an dieser Stelle die Perspektive um. Er spricht nicht von einer Vernunft des Menschen, sondern von der Gottes. Nicht von der „Weisheit der Welt“, sondern von der „Weisheit Gottes“, um dann mit einer atemberaubenden dialektischen Figur zu erklären: in der Torheit des Kreuzes liege Gottes Weisheit, im Ärgernis des Kreuzes Gottes Kraft.
Das mag schwer zu glauben sein, aber Paulus hat eines erreicht: Das Faktum des Sterbens des Gottesgesandten an einem Kreuz muss nicht, wie dann im Koran, geleugnet werden, sondern kann und darf als ein Zeichen Gottes verstanden werden. Wofür? „das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“. Welch ein Wort.
Wie oft habe ich darüber nachgedacht. Oft unter dem ehrlichen Vorbehalt: „Ich steh‘ vor Dir mit leeren Händen, Herr. Fremd wie dein Name sind mir deine Wege“ und auch die deiner Interpreten. Und doch habe ich diesen Schlüsseltext einer christlichen Theologie nie weggedrückt, sondern auch in meine interkulturellen und interreligiösen Arbeit eingebracht: Im Gespräch mit allen drei Einreden: von Intellektuellen, von Juden und Muslimen. Nicht, weil ich sie besserwisserisch belehren wollte. Nicht, weil ich eine glatte Antwort hätte, sondern weil ich spürte, dass diese Gottesrede den Einreden Stand zu halten vermag und mir ein mehr an Möglichkeit eröffnete, von Gottes Präsenz auch in den Passionsgeschichten der Welt zu reden. Es war immer meine Überzeugung: Im interrreligiösen Dialog muss es darum gehen, die Einreden der Anderen ernstzunehmen, ihre positiven Motive zu verstehen, um dann aber in ihrem Licht das Eigene nicht einfach preiszugeben, sondern besser, genauer, sachgemässer zu sagen. Und zwar so, dass die von Paulus entworfene Gottesrede zwar nicht in ihrer äusseren, zumindest aber in ihrer inneren Vernünftigkeit verstanden werden kann.
Im Kern geht es hier um einen Konflikt von zwei unvereinbar scheinenden Gottesbildern: zwischen dem Bild von Gottes Treue, die einem Gesandten Gottes wie Jesus einen Schandtod am Kreuz erspart, und dem von Gottes Willen, der im Lichte der Auferweckung Jesu Christi sein Kreuz als Zeichen der Befreiung von der Macht der Sünde und des Todes begreift und Gott zutraut, auch das Schwache, Niedrige und Verachtete zu erwählen und mit seiner Präsenz zu umgreifen. Eine Botschaft, tiefer als alle menschliche Vernunft. Das Schwache, Niedrige und Verachtete muss nicht von Gott ferngehalten werden, wie es uns der „vernünftige Menschenverstand“ sagt, sondern kann als Ausdruck der Präsenz Gottes verstanden werden. Ich weiss, das ist eine in ihrer tollkühnen Dialektik schwer zu begreifende Rede, aber billiger ist sie nicht zu haben. Und unsere Kirche bräuchte dringend ihre ganze Glaubwürdigkeit zurück, um sie Menschen gerade auch in Zeiten der Pandemie zu vermitteln.
Da kommt glücklicherweise in diesen Tagen von Papst Franziskus ein Zeichen der Hoffnung. Ich stehe noch ganz unter dem Eindruck dessen, was ich gestern im Internet verfolgen konnte. Im Wissen um die Gefahren der Pandemie und der Gewaltexzesse ist der Papst in ein thraumatisch zerrüttetes Land wie den Irak gereist. Er hat an die Massen der Kriegsopfer erinnert, den Terror eines sog. „Islamischen Staates“, das Verbrechen am Volk der Jesiden und auch an die Unterdrückung und Vertreibung Hunderttausender von irakischen Christen. Zugleich hat er das Gespräch mit dem schiitischen Islam gesucht. Sein Treffen mit Grossajatollah Ali al Sistani in Nadschaf ist von grösster religionspolitischer Tragweite, vergleichbar nur dem Treffen mit der obersten Autorität des sunnitischen Islam, dem Grossscheich der Kairoer Al-Azahr Universität, Ahmad al Tayyeb, Anfang 2019 in Abu Dabi und ihrem gemeinsamen Dokument „Über die Geschwisterlichkeit aller Menschen“. Jetzt hat der Papst auch das Gespräch mit dem anderen Islam gesucht: der Shia. Zwar sind nur 10 % der Muslime in aller Welt Shiiten, im Irak aber sind es über 60%.
Und dann die Reise nach Ur, an den legendären Herkunftsort Abrahams, des Ur-Mannes, wie Thomas Mann ihn nannte, den Juden, Christen und Muslime als den Urvater ihres Glaubens verehren. Die Ansprache des Papstes, gestern (6.3. 2021) an diesem Ur-Ort, seine Auslegung der Abraham-Erzählung in dieser wüstenartigen Ur-Landschaft und das anschliessende Friedensgebet der „Kinder Abrahams“ waren bewegend und inspirierend zugleich. Welche eine Szene, die durch Luftaufnahmen von den Ruinen des antiken Ur auch optisch eindrucksvoll präsentiert wurde. Was die Präsenz des Gottes Abrahams bei den Schwachen, Niedrigen und Verachteten bedeutet an Widerstand und Hoffnung, bedeutet gerade auch für die so geschwächte Christenheit im Irak, ist hier ergreifend bezeugt worden: „Als der Terrorismus im Norden dieses werten Landes wütete“, sagte der Papst gestern in Ur, „zerstörte er auf barbarische Weise einen Teil des wunderbaren religiösen Erbes, darunter Kirchen, Klöster und Gebetsstätten verschiedener Gemeinschaften. Aber selbst in diesem dunklen Moment leuchteten Sterne. Ich denke an die jungen muslimischen Freiwilligen von Mosul, die bei der Wiederinstandsetzung von Kirchen und Klöstern geholfen und so auf den Trümmern des Hasses brüderliche Freundschaften aufgebaut haben, und an die Christen und Muslime, die heute gemeinsam Moscheen und Kirchen restaurieren.“ „Aber selbst in diesem dunklen Moment …“.
Lesen Sie das in Ur-Bezeugte im Internet nach. Aus den Ursprüngen heraus das Gemeinsame in unserer auch durch die Religionen so gespaltenen Welt suchen im Interesse des Friedens und der Geschwisterlichkeit aller Menschen war die Botschaft des Papstes. Unsere Welt hat nichts dringender nötig als das.
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