Nachdenken über einen Vierzeiler von Goethe und eine dazu gehörende Kalligraphie

An zentraler Stelle in unserer Haus hängt die hier abgebildete Kalligraphie von Shahid Alam, einem aus Pakistan stammenden, aber seit langer Zeit in Deutschland arbeitenden begnadeten Kalligraphen. Shahid Alam hat auf unsere Bitte hin einen Text von Goethe ins Arabische übersetzen lassen und dann diesen Text im Format 80 mal 80 kalligraphisch und farblich gestaltet. Es handelt sich um einen Schlüsseltext aus Goethes Gedichtzyklus „West-östlichem Divan“ aus dem Jahr 1819:

„Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Occident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.“

Der „Divan“ ist Ergebnis eines Gesprächs, das Goethe mit einem persischen Dichter des 14. Jahrhunderts geführt hat. Dieser trägt den Titel „Hafis“, und diesen Titel bekommt nur jemand „der den Koran auswendig kennt“. Kein Zufall also, dass Goethe sich ebenfalls in der „Divan“-Zeit intensiv mit dem Koran befasst hat.

Seinem Vierzeiler liegt denn auch ein Koranvers zugrunde. Sure 2, 142: „Sag: Gott gehört der Osten und der Westen. Er führt, wen er will, auf einen gerade Weg.“ Aber spannend ist zu sehen, wie Goethe den Text abwandelt, um ihn in seinen „Kosmos“ zu integrieren. Zwar bleiben auch bei Goethe noch Anklänge an die Struktur des koranischen Prätextes erhalten, zugleich aber wird jetzt alles Korantypische weggelassen: das an den Propheten gerichtete „Sag“ ebenso wie die durch Gott ermöglichte Leitung auf dem „wahren Pfad“.

Stattdessen macht Goethe daraus einen eigenen unverwechselbaren Text: erstens durch einen sprachlich eleganteren Parallelismus ohne das rhythmisch störende „und“: „Gottes ist der Orient! / Gottes ist der Occident!“ und zweitens durch eine inhaltliche Pointe: „Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände“. Im Koran findet sich dazu zwar keine wortwörtliche Parallele, in der Sache aber dürfte dem Sure 2, 115 nahekommen: „Gott gehört der Aufgang und der Niedergang der Sonnen, und wohin ihr euch wendet, ist Gottes Angesicht da.“ Goethes eigene Pointe aber ist das Friedensregiment Gottes, das er dem vergänglichen Chaos irdischer Herrschaftsverhältnisse entgegensetzt, wie er es in den vergangenen 20 Jahren seines Lebens mit den schier endlosen, ganz Europa erschütternden napoleonischen Kriegen erlebt hatte.

Der universale Gottesfrieden also als Grundlage des Weltfriedens. Indem Goethe den engen Koranbezug überwunden hat, hat er die Gottesrede universalisiert, ohne den Koranbezug ganz zu verlieren. Jetzt ist sein Vierzeiler Ausdruck der Hoffnung von „Gottgläubigen“ jeder Art, ob Muslime, Juden oder Christen, allen also, die sich nach dem Frieden Gottes sehnen und die Welt in „Gottes Hände“ geborgen wissen wollen. Dieser Glaube aber muss dem täglich erfahrbaren Weltchaos immer wieder abgetrotzt werden, den Friedensschändern und Kriegshetzern insbesondere. Dem hat schon Goethe entgegen gehalten: Die Welt ruht nicht in den Klauen des Teufels, sondern in den Händen Gottes.

Um uns an diese Botschaft täglich neu zu erinnern, haben wir dieser farblich und kompositionel eindrucksvollen Kalligraphie in unserem Haus einen zentralen Platz gegeben. Das Gold des Rahmens korrespondiert wunderbar mit dem Blau und dem Grün und wird noch einmal aufgenommen in dem Gelb, das uns Betrachtern aus der Tiefe entgegenzukommen scheint, so intensiv, dass es zum Weiss changiert. Die ins Arabische transponierten Goethe-Verse, die in Ringform die Mitte umschliessen, setzen die Friedensbotschaft noch einmal optisch um und machen sie auf dieser Weise zu einem „neuen Koran“.

Wir lieben diese Kalligraphie: für uns Vermächtnis und Auftrag zugleich.

Aus: PUBLIK-FORUM vom 30. April 2020.

Hinweis:

Das Buch von Karl-Josef Kuschel und Shahid Alam „Goethe und der Koran“ ist im Februar 2021 im Patmos Verlag erschienen.

Weitere aktuelle Texte