Volpertshausen oder: die Verzauberung des Alltäglichen durch die Literatur
Es dürfte unter den Goethe-Gedenkstätten in Deutschland keinen Ort geben, der unscheinbarer und bescheidener daherkommt wie der in Volpertshausen, wenige Kilometer südlich der Lahn-Stadt Wetzlar gelegen. Noch heute ein Dorf wie es Tausende gibt. Verwechselbar. Knapp 1000 Einwohner. Und noch heute wie weggeduckt. Man fährt von Wetzlar nach Hüttenberg und hofft auf eine Verkehrsführung durch ein Schild. Vergeblich. „Volpershausen“ ist nicht ausgeschildert. Warum dann aber eine Fahrt dorthin?
In Volpertshausen steht ein Fachwerkbau, Anfang des 18. Jahrhunderts als Jagdhaus des örtlichen Landgrafen erbaut und zuerst von einem Oberförster und seiner Familie bewohnt und bewirtschaftet. Wahrscheinlich um zusätzlich etwas Geld zu verdienen, vermietet man einen grösseren Raum im Obergeschoss an verschiedene Gesellschaften, in dem früher die Landgrafen während der Jagd zu tafeln pflegten. Das hatte sich offensichtlich bis nach Wetzlar herumgesprochen.
Mitte Mai 1772 war ein an der Universität Straßburg ausgebildeter Jurist aus Frankfurt/M. nach Wetzlar gekommen. Er ist 23 Jahre alt und soll – auf Wunsch seines als Rechtsanwalt höchst aktiven und erfolgreichen Vaters – am dortigen Reichskammergericht als Praktikant seine juristische Ausbildung vorantreiben: Johann Wolfgang Goethe. Hochmotiviert dazu ist er nicht. Im Gegenteil. Literarische Pläne schwirren ihm im Kopf. Statt verstaubte Akten zu lesen, vertieft er sich lieber in griechische Klassiker: die Epen Homers und die Gedichte von Theokrit, Anakreon und Pindar und sucht mit ihrer Hilfe eine eigene Sprache für sein Lebensgefühl und für die, wie er später schreiben wird, „unaussprechliche Schönheit der Natur“ rund um die Stadt.
In Wetzlar lebt noch Goethes Großtante, Hofrätin Susanne Maria Cornelia Lange (1711-1783). Und sie ist es, die für den 9. Juni 1772 im Jägerhaus zu Volpertshausen einen Ball ausrichtet, vermutlich aus Anlass der bevorstehenden Verlobung ihres Sohnes mit der ältesten Tochter des Wetzlaer Deutsch-Ordens- Amtmanns Heinrich Adam Buff und des Geburtstags ihrer zukünftigen Schwiegertochter. Eine gute Gelegenheit, ihren Grossneffen aus Frankfurt in die Wetzlaer Gesellschaft einzuführen. Goethe folgt denn auch der Einladung und kommt an diesem 9. Juni zusammen mit 24 anderen jungen Leuten nach Volpertshausen, die einen per Kutsche, die anderen zu Pferde, um bei diesem „Ball auf dem Lande“ dabei zu sein. Und dieser „Ball“ findet im Obergeschoss dieses Jagdhauses statt.
Der Saal ist nicht gerade überdimensioniert. Ihn „Ballsaal“ zu nennen eine Übertreibung. Die Gesellschaft der 25 wird gerade darin Platz gefunden haben. Nichts Auffälliges ist an ihm, nichts Erwähnenswertes. Ein Raum mit vielen Fenstern wie es Abertausende gibt. Nicht der Rede wert. Und mehr als diesen Raum hat man in Sachen Goethe in Volpertshausen auch nicht zu bieten, auch nicht mehr als einen Abend und eine Nacht Präsenz des damals 23 jährigen. Wenn nicht …, ja wenn Goethe diesen Abend literarisch nicht so beschrieben hätte, dass er sich als ein „magischer Moment“ in der Imagination von ungezählten Leserinnen und Lesern festgesetzt hätte. Nur wenige Stunden war Goethe hier, an diesem 9., einem warmen Juniabend, aber die Literatur bannt diese Zeit wie eine Filmszene, die man angehalten hat.
Er ist selber an diesem Abend verliebt. Er lernt auf dem Ball zum ersten Mal Charlotte Buff kennen, die zweitälteste Tochter des Amtmanns Buff. Entzückend sieht sie aus mit ihren 19 Jahren und in ihrem weissen Kleid mit den blassrosa Schleifen an Brust und Armen. Da die Mutter gestorben ist, muss sie an Mutters Statt ihre jüngeren Geschwister versorgen, sieben an der Zahl.
Aus dieser ersten Begegnung entwickelt sich eine Liebesgeschichte der persönlichen Art, die nicht glücklich endet und Goethe nach zwei Monaten zur Abreise aus Wetzlar nötigen wird. Denn Charlotte, so bezaubernd sie ist und so freundschaftlich sie Goethe zuneigt, ist verlobt und denkt, trotz allen Werbens, nicht daran, diese ihre Verbindung aufzukündigen. Das kommt vor. Liebesgeschichten kommen und gehen. Manche gelingen, manche bleiben unerfüllt. Auch das alles wäre bestenfalls nur eine flüchtige Episode im Leben des Dichters geblieben, nicht mehr als eine kurze Anekdote, wäre da nicht die Literatur.
Wäre da nicht diese Szene, die Eingang in den Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ gefunden hat. 1774, gut zwei Jahre nach dem Weggang aus Wetzlar, erscheint das Buch und macht mit einem Schlag aus dem bisher unbekannten Juristen aus Frankfurt am Main einen national und international bekannten Schriftsteller. Goethe hat die Form eines Briefromans aus der monologischen Perspektive des „Helden“ gewählt und die eigenen Liebesgeschichte zu einer Liebestragödie fortgeschrieben, geht doch am Ende der in Liebe und Leben gescheiterte „Held“ von eigener Hand aus dem Leben.
Alles aber beginnt im „Werther“ mit dem „Ball auf dem Lande“. Im Tanzsaal eines Jägerhauses, wie es auch im Roman heisst. Der Schauplatz ist eins zu eins in den Roman eingegangen. Doch was immer Goethe selber an diesem Abend empfunden haben mag, in Werther hat er sich eine fiktive literarische Stellvertreter-Figur geschaffen. Und an die gilt es sich zu halten.
Vom ersten Moment der Begegnung an ist Werther wie hingerissen von der jungen Frau. Man holt sie in der Kutsche auf der Fahrt zum Tanz in ihrem Elternhaus ab, als sie gerade ihre Geschwister versorgt. Werther sieht sie zum ersten Mal in dem Moment, als sie der um sie wimmelnden fröhlichen Kinderschar von einem Laib Brot je eine Scheibe abschneidet. Welch eine Szene: Schönheit und Anmut einer jungen Frau, gepaart mit Mütterlichkeit. Eine bezaubernde Mischung.
Auf der Fahrt zum Jägerhaus steigert sich noch Werthers Faszination. Lotte ist nicht nur schön und mütterlich, sondern auch literarisch gescheit und klug in ihrem Urteil über Gelesenes. Werther findet „so viel Charakter“ in allem, was sie sagt, sieht „mit jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren Gesichtszügen hervorbrechen“. Ihre Augen, ihre Lippen, ihre Wangen ziehen seine „ganze Seele“ an. In den „Sinn ihrer Rede“ ist er „ganz versunken“, oft hört er die Worte gar nicht, mit denen sie sich ausdrückt. Der Bann ist vollkommen. Die Verschmelzung intensiv. Nach dieser ersten Begegnung steigt er, vor dem „Lusthause“ angekommen, bereits „wie ein Träumender“ aus der Kutsche aus.
Und dann der Tanz. Je intensiver er wird, umso mehr steigert sich die Verliebtheit des jungen Mannes. Gleichzeitig baut sich mit Blitz und Donner ein Gewitter über dem Haus auf. Die tänzerischen Bewegungen drinnen und die gewittrigen Bewegungen draussen steigern sich gegenseitig und erzeugen erst recht eine erotisch knisternde Spannung. Jetzt ist Werther wie im Rausch, hingerissen auch von der Lebendigkeit und Natürlichkeit der Tänzerin. Augen hat er nur noch für sie. Trunken vor Glück, versunken in ein Gefühl der Selbstpreisgabe. „Ich war kein Mensch mehr“, schreibt er denn auch in Erinnerung an diesen Abend seinem Briefpartner Wilhelm. „Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben, und mit ihr herum zu fliegen wie Wetter, dass alles rings umher verging und – Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber doch den Schwur, dass ein Mädchen, das ich liebte, auf das ich Ansprüche hätte, mir nie mit einem andern walzen sollte, als mit mir, und wenn ich drüber zu Grunde gehen müsste, du verstehst mich.“
Und dann der Höhepunkt des ganzen Abends. Das Gewitter entlädt sich über dem Haus und Lotte erweist sich nicht nur als leidenschaftliche Tänzerin, sondern als lebenskluge Therapeutin. Sie motiviert die von Blitz und Donner eingeschüchterte Gruppe zu einem Spiel, das Mut erweckt und die Ängste zu bannen versteht. Als das Gewitter vorüber ist, betreten Lotte und Werther wieder den Saal. Sie treten an ein Fenster und schauen, wie jetzt der Regen auf das Land herniedergeht und Wohlgeruch in aller Fülle warmer Luft zu ihnen aufsteigt. Wie gebannt hat Werther sie im Blick. Wie in Zeitlupe verlangsamt beschreibt er hinterher jedes Detail: Sie steht an diesem Fenster auf ihre Ellenbogen gestützt, durchdringt die Gegend mit ihrem Blick, sieht zum Himmel auf und legt ihre Hand auf die seine. Nur ein Wort entfährt ihr: „Klopstock“ und ruft damit den Namen eines zu ihrer Zeit grossen Dichter auf, der mit seinem Gedicht „Die Frühlingsfeier“ ein Naturerlebnis dieser Art beschrieben hatte. Werther ist aufs Neue entzückt, weil er auch diese Erfahrung mit Lotte teilt. Es braucht nicht mehr, um tiefe Seelenverwandtschaft mit dieser Frau zu empfinden. Er versinkt denn auch „in dem Strome der Empfindungen“, hält die Spannung nicht nicht länger mehr aus, neigt sich auf ihre Hand und küsst sie unter Tränen.
Was hier zum Auftakt des „Werther“ durch Sprache gebannt ist, ist eine der grossen erotischen Szenen der Literatur. Erzählt wird von einem uralten Widerfahrnis, das uns Leserinnen und Leser deshalb anzurühren vermag, weil es eine Saite in uns zum Erklingen bringt. Wir kennen solche Erfahrungen, solch „magischen Momente“ der ersten Begegnung eines jungen Mannes mit einer bezaubernd schönen jungen Frau. Goethe lässt seinen Werther denn auch von nichts anderem als von der Faszination erzählen, die diese eine Frau auf ihn ausübt: in einer Intensität, Leidenschaft und Unbedingtheit, dass es einem die Sprache verschlägt, weil man sich selber wie verzaubert in das Romangeschehen versetzt sieht. Diese Frau hat den jungen Mann in ihren Bann gezogen, weil sich in ihr Unerwartetes vereinigt: Sie ist eine mütterliche Erscheinung, ohne selber Mutter; literarisch belesen, ohne prätentiös; urteilsstark, ohne intellektuell; selbstbewusst, ohne arrogant, lebensklug, ohne bevormundend zu sein.
Kurz: Die Begegnung mit Lotte ist für Werther eine „Epiphanie“. Und alle Epiphanien haben ihren Zauber darin, dass sie einen überwältigen. Sie treffen einen unerwartet, unvorbereitet, ungeschützt und verändern dann die Welt- und Selbstwahrnehmung. Man ist dann nicht mehr „man selbst“. Man ist dann in der Tat „kein Mensch“ mehr, jedenfalls nicht der, der man vorher war. Epiphanien sind Zäsurerfahrungen, und genau die lässt Goethe seinen Werther machen.
Eine einzigartige Szene. Angeregt durch den Abend im „Ballsaal“ zu Volpertshausen. Die Literatur hat sie zu einer Ikone gemacht. Seither ist dieser Raum, an dem nichts Besonders ist, nichts Ungewöhnliches, in dem kein Objekt steht, das der Erinnerung wert wäre, wie gebannt, wie verzaubert, als ob er eine unsichtbare geistige Energie gespeichert hätte, die immer wieder aufs Neue die Menschen anrührt, wenn sie den „Werther“ lesen. Durch die literarisch erzeugte Imagination wird der alltägliche Ort gezeichnet und bleibt unauslöschlich in Erinnerung. Der einstige Tänzer zu Volpertshausen hat seine ganz persönliche Erfahrung im Saal des Jägerhauses zu einer archetypischen Begegnungszene gemacht, in die man – verliebt in das Verliebtsein – gerne einschwingen möchte. Wer kennt nicht magische Momente des Verliebtseins, des Rausches, die Selbstvergessenheit, des Schwebens, des Glücks? Man möchte es festhalten, dieses so flüchtige Glück. Verweile doch, du bist so schön …
Literatur hat in der Tat die Kraft, unsere Welt zu verwandeln und so unseren alltäglichen Erfahrungen eine Tiefendimension zu geben. Verwandlung des Alltäglichen findet statt. Aus banalen Orten werden verzauberte, aus beliebigen Momenten magische. Schwer, sich dieser Magie zu entziehen, ist man einmal angerührt worden.
Seit dem 9. Juni 1772 hat das Haus einiges erlebt. Es wechselte seine Besitzer und seine Bestimmungen, wie könnte es anders sein? Ein Tuchfabrikant mit Familie zieht zunächst ein, ein Pfarrer übernimmt und lässt die finanziell angeschlagene Familie darin wohnen. Dann, 1838, erwerben die beiden Gemeinden Volpertshausen und Weidenhausen das ehemaligen Jägerhaus und machen ein Schulhaus daraus. Der Saal im Obergeschoss? Er wird zum Schulzimmer. Gut 100 Jahre bleibt das so, bis 1934 aus Platzgründen das Schulzimmer ins Erdgeschoss verlegt und der „Ballsaal“ zur Lehrerwohnung umgestaltet wird. Eine Zwischenwand wird eingezogen, und wo einst Goethe und Charlotte Buff getanzt haben, befindet sich jetzt ein Eltern- und Kinderschlafzimmer.
Doch die Erinnerung an Goethes und Charlottes Präsenz in Volpertshausen geht nie ganz verloren. Immer wieder schon vor und dann nach dem Ersten Weltkrieg kommen Besucher auf Goethes Spuren ins Dorf. 1949 wird auch in Volpertshausen das Fest zum 200. Geburtstags des Dichters gross gefeiert und gibt dem Goethe-Gedenken Auftrieb. Schule bleibt das Gebäude bis 1965.
Heute ist es wieder ein „Goethehaus“, denn seit 1989 ist ein Heimatmuseum hier eingezogen, getragen von einem Heimatkundlichen Verein, der das Haus erhält. Wer es besucht, entdeckt im Erdgeschoss, was zur Alltagskultur dieser dörflichen Gemeinde gehört. Mit Liebe zum Detail ist hier alles dokumentiert. Damit aber konnte auch der „Ballsaal“ im Obergeschoss wieder hergestellt werden. In alter Dimension. Grössere Theateraufführungen können hier jetzt stattfinden, Vorträge, Konzerte, aber auch kleine Schauspiele. Wovon Werther bestenfalls zu träumen wagte, wiederholt sich hier jetzt in schöner Regelmässigkeit: ein Mann und eine Frau geben sich vor dem örtlichen Standesbeamten ihr Ja-Wort zur Ehe …
Und die Szene vom 9. Juni 1772, voll von Erotik und Gewitter, verwandelt durch die Imaginationskraft der Literatur zu einem „magischen Moment“? Sie erwies sich als stark genug, um alle Umbrüche der Geschichte und Umbauten des Hauses zu überleben. Heute könnte wieder getanzt werden im Ballsaal des alten Jägerhauses. Auch das Fenster gibt es noch, an dem Werther und Lotte gestanden haben, als das Gewitter vorbeigezogen war und die Erde zu dampfen begonnen hatte.
Und wenn du die nicht hast, diese magischen Momente in deinem Leben, „bist du nur ein trüber Gast / auf der dunklen Erde.“
Nach einem Besuch am 7. August 2020. Daten zur Geschichte des ehemaligen Jägerhauses in: Werner Ludwig – Christiane Schmidt, Die wechselvolle Gesichte des Goethehauses in Volpertshausen, Hüttenberg 2018.
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